Kürzlich hat sich ein Börsenmagazin des Themas „EDV im Gesundheitswesen“ angenommen.
Und natürlich eine Reihe von Aktien und Fonds empfohlen, die man jetzt kaufen müsse, wenn man an zukünftig gewinnträchtigen Entwicklungen nicht völlig vorbeigehen wolle.
Das sei ein „Wachstumsmarkt“, der zukünftig hohe Renditen erwarten lasse.
Eine der Firmen, deren Aktien eine starke Kaufempfehlung erhielten, stellt ein sogenanntes „KIS“ her, ein KrankenhausInformationsSystem.
Dessen Bedienung ist – das kenne ich aus eigener Anwendung – alles andere als bedienerfreundlich, fehlerverzeihend. Hakelig und langsam halt. Mit zweifacher Abfrage von Benutzername und Passwort, bis man endlich irgend etwas damit anfangen kann. Und hängt sich auf, wenn die Netzwerkverbindung durch hohe Nutzung zu langsam wird.
Administrativ ist das KIS sehr nützlich. Es gibt nahezu keinen Patienten, der abrechnungstechnisch durch die Maschen schlüpft. Fehler bei der Codierung, unvollständige Datensätze, die nicht abgerechnet werden können, fallen sofort auf und werden der Nachbesserung zugeführt.
Aber medizinisch?
Es gibt bestimmt bessere Systeme. Allerdings hat die Zeit bei diesem Börsenmagazin nicht gereicht, um gründlich zu recherchieren.
Lange ist es her, da hat die damals monatlich erscheinende Computerzeitschrift „BYTE“ über die EDV-Infrastruktur des Massachusetts General Hospital in Boston berichtet.
Das war so Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Medizinisch immer schon top, hatte das Mass Gen Ho viel Geld in die Hand genommen und ein KIS installiert, das umfassend und sicher alle Bereiche miteinander vernetzte. Laborwerte? Ein Mausklick. Röntgenbilder? Ein Mausklick. Diese vom Fachmann befunden lassen? Telefonkonferenz, beide Seiten sahen das gleiche Röntgenbild auf dem Schirm und mit der Maus konnte gezeigt und markiert werden.
Ein Traum.
Nie wieder kommt ein Patient erneut zur Aufnahme und die Krankengeschichte samt Unterlagen müssen erst mühsam im finsteren Keller aus dem Archiv gekramt werden. Man rät es schon: ein Mausklick….
Wir schreiben das Jahr 2018.
Wie viel von damals findet sich heute in der Krankenhauswirklichkeit wieder?
Ja, wir haben ein KIS. Ja, wir können Laborwerte aufrufen. Und Röntgenbilder.
Aber: wird der Patient entlassen, werden wichtige Bestandteile der immer noch in Papierform geführten Patientenakte auf Mikrofilm gesichert.
Und die restlichen Unterlagen?
Geschreddert. Datenschutz!
Wichtig sind zum Beispiel NICHT die Narkoseprotokolle. Auch wenn der Patient Besonderheiten in seinem Narkoseverlauf aufwies. Das Original des Narkoseprotokolls findet sich in der Patientenakte – nicht jedoch, wenn man die mikroverfilmten Dokumente aus dem Archiv kommen lässt. Weg ist es. Nicht mit mikroverfilmt. Einzig im Sekretariat der Anästhesie werden die Duplikate aufbewahrt.
Und so wundert es nicht, dass ich eines Tages einen Patienten vor mir hatte, der laut Schreiben der Hautklinik unseres Konzerns eine Allergie gegen ein Muskelrelaxans hatte. Dieses haben wir natürlich NICHT verwendet und alles schien gut.
Jetzt erscheinen die Operateure. „Oh, der schon wieder! Der wird hier jedesmal reanimiert, wenn ihr Narkose macht!“.
Warum? Keiner weiss es. Akte: leere Blätter bezüglich Anamnese und vorherigen Krankenhausaufenthalten. Keine alten Narkoseprotokolle, wo man hätte Informationen über den behaupteten Sachverhalt gewinnen können. Entlassungsbrief? Die Unterlagen sind noch auf dem Postweg….
Ja, auch bei meiner aktuellen Narkose kam es zu einer allergischen Reaktion auf eines der vielen verwendeten Medikamente.
Auch bei meiner Narkose musste er reanimiert werden, wenn auch nur kurz, bis er sich wieder stabilisierte.
Man hätte es wissen und vermeiden können, wenn unsere EDV diese Informationen auch gespeichert hätte. Oder meine Vor-Narkotiseure diese Informationen in geeigneter Form dem Patienten mitgegeben hätten. Es gibt einen sogenannten „Anästhesie-Ausweis“, gelb, stabiler Karton, auf dem mit wenigen Kreuzchen Besonderheiten eingetragen werden können. Aber der kostet Geld. Und wird daher häufig durch einen DiN A 4 Brief ersetzt. Den heftet der Patient bestenfalls in seine Unterlagen. Zuhause. Und davon haben wir nichts.
Und dabei sind wir wieder beim Thema: die Krankenhaus-EDV gibt’s nicht her. Zwar gibt es einen Reiter „Anästhesie-Besonderheiten“ im OP-Protokoll, aber die dort eingetragenen Informationen kommen nicht automatisch wieder auf den Schirm, wenn der Patiente eine erneute Narkose erhalten soll.
Man könnte so etwas natürlich auf der Gesundheitskarte des Patienten vermerken. Aber für die bräuchte es ein Lesegerät, das wir im OP nicht haben. Und auf der Gesundheitskarte wird nichts gespeichert. Datenschutz. Noch immer ist der medizinische Nutzen der Karte gleich Null. Es gibt Dutzende von Absichtserklärungen, die aber nicht in die Tat umgesetzt werden. Datenschutz.
Der Datenschutz hindert mich auch daran, auf Patientendaten anderer Fachabteilungen zuzugreifen. Also internistische Patientendaten sind für mich tabu. Auch, wenn der internistische Patient plötzlich zum chirurgischen wird, weil wir ihn operieren und narkotisieren sollen. Labor und medizinische Daten? Tabu. Erst, wenn er im System verlegt wird, ändert sich das. Bis dahin habe ich aber eine Prämedikationsvisite durchzuführen, bei der ich natürlich auch Laborwerte ansehen muss. Aber nicht kann. Es sei denn, ein freundlicher internistischer Kollege ruft diese Daten für mich auf.
Hey, ich bin Arzt! Ich gucke nicht aus Langeweile in den Laborwerten von Frau Meier herum, wenn ich mit Frau Meier nix zu tun habe. Mein Tag ist auch so schon ausgefüllt genug. Also warum bindet ihr mir einen Arm auf den Rücken und dann soll ich Tischtennis spielen? Mit Augenbinde!
Datenschutz!
Nebenbei bemerkt: es gibt einige verschiedene KIS, die miteinander nicht vernetzt und kompatibel sind. Wenn Krankenhaus A irgend etwas einträgt, steht diese Information in Krankenhaus B nicht zur Verfügung. Sekretariate von Anästhesieabteilungen sind üblicherweise nur rund 38,5 Stunden in der Woche besetzt. Und meist nicht in der Lage, die gewünschten Daten schnell und umfassend zur Verfügung zu stellen, wenn man nicht genau sagen kann, wonach man sucht. Name und Datum der Narkose? Geht, nicht aber Name und ungefährer Zeitraum der gesuchten Narkose. Und schon gar nicht nachts und am Feiertag oder Wochenende.
So begeben wir uns dann halt auf den Blindflug.
Um dem ganzen Unternehmen „Digital Health“ einen Nutzen zu geben, bedarf es grosser Investitionen in die Hard- und Software. Deren Notwendigkeit muss man der administrativen Seite erst vermitteln.
Das wird nicht einfach, denn sogar die meisten medizinisch Verantwortlichen sind leider mit dem Ist-Zustand zufrieden.
Darüber hinaus müssen einheitliche Standards entwickelt werden, damit die gesammelten Informationen auch Sinn machen. Sie müssen nämlich austauschbar sein, unabhängig davon, welcher Hersteller Hard- und Software für ein Krankenhaus geliefert hat.
Die Gesundheitskarte muss endlich die wichtigsten medizinischen Daten des Patienten speichern, nicht nur abrechnungsrelevante.
Und überall von berechtigten Nutzern auslesbar sein.
Da ist die Politik gefordert, endlich mal die vielen losen Enden zu verknüpfen….
Folgt man der Empfehlung, „Digital Health“ Aktien und Fonds zu kaufen, muss man einen sehr langfristigen Anlagehorizont haben. Zumindest hier in Deutschland.